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Dr. Helmuth Niederle: "Vor den Glücksmaschinen: Gesichter, Köpfe, Leiber und Körper" (German), 2009

Vor den Glücksmaschinen: Gesichter, Köpfe, Leiber und Körper

Adnotes zur Kunst von Franz Schwarzinger

 

Menschliche Körper, die zu Fragmenten geworden sind, Gesichter, aus denen die Freude gewichen ist, und große dunkle Augen, deren Blick nicht primär in die Welt fällt, sondern ein Geheimnis verbergen, sind die auffallendsten Merkmale in den von Franz Schwarzinger geschaffenen Bildwelten.

Bekanntlich gibt es in der bildenden Kunst keine Darstellung eines Menschen, die nicht etwas repräsentiert, das über das Einzelbild hinausgeht. Wofür stehen die

Menschen, die Schwarzinger zeigt?

 

1. Zugang

Größer könnte der Gegensatz nicht sein: die von der Werbung beschworene heile Welt und der eigene alltägliche Ungemach. Was die in den einzelnen Spots gezeigten Menschen im Handumdrehen erledigen – einfach zwischendurch, wie eine beglückte Hausfrau angesichts der wunderbaren Waschmittels sagt –, beschäftigt den Zuschauer meistens stundenlang. Selbst Tätigkeiten, die als watscheneinfach beschrieben werden, fordern das gesamte Geschick desjenigen heraus, der sich bemüht, in sein Leben jenes Maß an günstigen Umständen herbeizuführen, die das Dasein erleichtern sollen. Die in der Werbung – einer visuellen Glücksmaschine – gezeigten Personen und diejenigen, denen das Glück vorgaukelt wird, verhalten sich wie positiv und negativ zueinander. Der Philosoph und Physiker Pravu Mazumdar behauptet: „Nichts suchen die Menschen so sehr wie das Glück und nichts formt sie so sehr wie ihre eigene Glückssuche.“ Wäre Glück einfach zu finden, dann hätten es die Menschen schon längst aufgefunden, die meisten scheitern allerdings bereits bei der Antwort: Was ist eigentlich Glück? In der Regel haben die Fragenden keine Ahnung, wonach sie suchen.

Die menschlichen Figuren, die sich auf den Bildern von Franz Schwarzinger tummeln, sind auf der Suche nach dem verlorenen Glück, das sich durch den Nachteil auszeichnet, noch niemandem angehört zu haben. Die Menschen sind erpicht auf etwas, was sie noch nie hatten, und wissen darüber hinaus nicht, was Glück eigentlich bedeutet. Vermutlich haben sie nicht einmal eine Ahnung, wer sie eigentlich sind. Leider ist der kabarettistische Stossseufzer aus dem „Pratermärchen“ von Rudolf Weyß nie Wirklichkeit geworden: „Jetzt kaufen mir sich doch noch eine Psyche.“ Diese Glückmaschine steht leider nicht zur Verfügung.

 

2. Zugang

Die Frage nach dem Überleben der Menschheit durch die fatale zivilisatorische Entwicklung, weil die Natur, die Ressourcen oder die Welt zerstört wird, sorgt regelmäßig für Gesprächsstoff. Die Konsequenzen sind meistens dieselben: ein wenig Beunruhigung entsteht und vergeht, der eine oder andere Gewissensbiss schmerzt vielleicht ein wenig, doch wesentliche Änderungen sind nur sehr bedingt in Sicht. Dieser pessimistischen Sicht liegt die Annahme zugrunde, dass letztlich alle zur Verfügung stehenden Güter in ihrer Quantität nur eingeschränkt zur Verfügung stehen und es nur eine Frage des Augenblicks ist, wann der spürbare Mangel eintritt. Der Verursacher dieser Evolution zeichnet sich durch Bewusstsein aus und unterscheidet sich dadurch (tatsächlich?) von allen anderen Lebewesen in seinen Äußerungsformen. Kunst und Kultur sind daher als Gegenbegriffe zur Natur zu verstehen, wobei der Mensch stets ein Zwitter ist: Er ist ein kulturschaffendes Wesen und bleibt gleichzeitig der Natur verhaftet. Die im Körper stattfindenden Vorgänge und ablaufenden Prozesse sind das Erbe einer Entwicklung.

Kunst ist eine der Äußerungsformen des Menschen, die ihm die Möglichkeit gibt, das Bedürfnis nach Deutung der Welt zur Verfügung zu stellen. Die Ausdeutung der Welt – zu der auch die Interpretation des menschlichen Körpers gehört – war im Laufe der Geschichte permanent verändernden Beurteilungskriterien unterworfen.

In der bildenden Kunst steht weltweit die interpretative Abbildung des menschlichen Körpers im Zentrum der Gestaltung. Gewiss, es gibt Regionen für die das nicht zutrifft und religiöse Traditionen in denen Verbote die Darstellung des Menschen und dessen in Übergröße projiziertes Überich (= ein mächtiger Herrscher bzw. Gott) oder die Gottheit und ihre Geschöpfe nicht gestattet sind. Dennoch allen Regulierungsversuchen zum Trotz entstanden und entstehen auch dort immer wieder Abbildungen des Menschen.

Was hat das alles mit Franz Schwarzingers Bildern zu tun? Das dominierende Thema seiner Kunst ist der Körper, der Leib und das Gesicht des Menschen, der im Zwiespalt lebt. Gäbe es eine zutreffendere Bezeichnung für den zum Abbild gewordenen Zustand, müsste man vom Vielspalt sprechen. Franz Schwarzinger berichtet von Menschen, die nicht das gedachte Ebenbild eines Gottes, die nicht in einem Garten Eden oder in einem Schlaraffenland beheimatet sind, die nicht voll Zuversicht in eine strahlende Zukunft blicken können. Und wenn der Begriff „strahlend“ genannt wird, dann wird nicht hoffnungsfroh, sondern atomar verseucht impliziert. Die einem Übervater beraubten, aus den Vorstellungen sakraler und profaner paradiesischer Zustände entlassenen und dem Prinzip Hoffnung entwöhnten Menschen von Franz Schwarzinger scheinen orientierungs- und heimatlos zu sein, was bei solch einem Mangel an Perspektiven und Gewissheiten nicht verwunderlich ist. Der Zustand, ohne schützende Garantie handeln und sich in einer psychischen Heimatlosigkeit zurecht finden zu müssen, wirkt sich aus: Die humanoiden Kreaturen erscheinen als Wesen, die nicht „ganz bei sich“ sind, als wären sie aus der Spur geraten und hätten nur eine Gewissheit, nie mehr in diese zurückfinden zu können. Dies macht manche Anklänge an die zustandsgebundene Kunst verständlich, was nicht zuletzt durch die Translokation mancher Organe und die Verformung der Leiber kenntlich ist.

Darüber hinaus erscheinen die menschlichen Wesen auf Schwarzingers Arbeiten nie in einer Geste oder einem Habitus, die sich als repräsentativ für einen gesellschaftlichen Status bezeichnen ließe. Nicht nur die europäischen bildenden Künste und die von ihr initiierten Traditionen (was nicht abwertend gemeint ist) haben Spektren an Repräsentationsformen entwickelt, die sehr exakt Auskunft geben, welches Ansehen, welcher Rang, welcher Klasse und welcher ethnische Zugehörigkeit der, dem und den Dargestellten zugeschrieben werden soll. Immer wieder entstanden Kunstwerke, die an der Repräsentation ihre Zweifel hegten und Bilder des Menschen entwarfen, die ihn seiner Lächerlichkeit preisgeben. Man denke an Arcimboldo, der aus Obst und Gemüse menschliche Gesichter fügte, und dadurch das „scherzo“ zum eigentlichen Thema machte oder an Franz Xaver Messerschmidt, der mit seinen „Charakterköpfen“ anstelle der äußeren Repräsentanz den inneren Wirklichkeiten Gestalt verlieh.

Franz Schwarzinger lebt in einem von Bildern durchfluteten Zeitalter, in dem jedem Menschen, der sich nicht in die selbst gewählte Einsiedelei zurückzieht, ununterbrochen Stimmen, Gesichter und (pseudo-)menschliche Schicksale zugemutet, ja geradezu aufgedrängt werden. Friedrich Torberg überlieferte in einer Anekdote von Franz Molnár so einen Stoff, der vom pseudomenschlichen Los handelt: „Junger Mann – glücklich mit seiner Mutter verheiratet – kommt drauf, daß es gar nicht seine Mutter ist – erschießt sich.“ Themen ähnlichen Zuschnitts ergießen sich vierundzwanzig Stunden täglich aus den Fernsehgeräten direkt in die Wohnzimmer, in denen Menschen behaglich im Sorgensitz (Georg Kreisler) Platz genommen haben, um Fragmente aus fremden Leben vorgegaukelt zu bekommen, von denen sie nie wissen können, ob es sich um wahre Geschichten oder um Erfindungen handelt.

Letztlich sind diese Berichte nichts anderes als Spiele, die für Unterhaltung sorgen, die aus Kurzweil oder Entsetzen – manchmal auch aus beidem zugleich – bestehen. Ernst zu nehmen ist dieses Entertainment nicht, es nimmt sich schließlich auch selbst nicht ernst. Dafür ist es Teil einer Glücksmaschinerie, die bei der Werbung beginnt und beim Infotainment endet.

Der Verdacht liegt nahe, dass die von Franz Schwarzinger gezeigten Menschen in einer Weise disponibel geworden sind, wie sie es zu keiner Zeit davor gewesen sind. Die Glücksmaschinerie bietet nicht nur Unterhaltung für jeden noch so raren oder abartigen Geschmack an, sondern verheißt auch die Gestaltung des eigenen Körpers nach den Wünschen und Bedürfnissen der sich in seinem Leib unwohl, das heißt fremd, fühlenden Person. Medikamente erlauben vernehmlich ein Styling, das vom gezielten Muskelaufbau bis zur Psyche reicht, Operationen bringen Unliebsames zum Verschwinden oder vergrößern Organe. Den Machbarkeitsphantasien am menschlichen Körper sind nur schwer auszumachende Grenzen gesetzt. In der Malerei von Schwarzinger wird der Mensch der völligen Verfügbarkeit thematisiert, der sich fremdbestimmt sagen lässt, was ihm physisch und psychisch frommt.

Doch Franz Schwarzinger gestaltet nicht wie Adolf Frohner ein „vulgäres Ballett“ (Kristian Sotriffer), schafft keine „Körperbewusstseinzeichnungen“ (Wolfgang Drechsler) wie Maria Lassnig, entwirft nicht das Bild des hässlichen Alpenlandbewohners, wie Manfred Deix es so trefflich versteht, sondern zeigt Menschen, die im Nirgendwo zuhause sind – was nicht zuletzt an den unbestimmbaren Räumen kenntlich wird, in denen die humanoiden Wesen agieren. Schwarzingers Geschöpfe haben zwar alles, was man haben kann und exakt aus diesem Grund besitzen sie nichts wirklich. Die ausgedrückte Armut ist nicht die, die in der beschränkten Verfügbarkeit an Gütern ihren Ausdruck findet, sondern ihre Armut ist die, die sich in den leer gewordenen Seelen äußert. Die Menschen sind sich selbst so unklar und undeutlich geworden, dass sie keine Ahnung haben, wofür sie eigentlich stehen oder was ihre tatsächliche Bestimmung sein könnte. Schwarzingers grotesk-karikierende Überzeichnung ist ein Sinnbild für anything goes. Was nur einen Nachteil hat: Es steht für Nichts, wenn man der Meinung ist, dass der Mensch mehr zu tun hat als ein Gast auf der Erde zu sein, der isst, sich vermehrt und nicht erkennen kann, dass erst die Annahme der Pflichten die Grundlage für die Freiheit ist. Anders gesagt: Die disponiblen menschlichen Wesen von Franz Schwarzinger sind im höchsten Maße unfrei, obwohl sie meinen, Wahlmöglichkeiten stünden ihnen zur Verfügung.

 

3. Zugang

Der schon zitierte Pravu Mazumdar meint: „ In modernen Gesellschaften ist der Raum nicht mehr polarisiert zwischen dem von Tod und Untergang geprägten profanen Raum und dem von Transzendenz aufgeladenen heiligen Raum. Die Zeit ist nicht mehr eine bloß lokale Größe, die sich von Ort zu Ort unterscheidet, sondern eine im Rahmen internationaler Zeitzonen einheitliche Zeit. Außerdem gibt es in der Monotonie des industriellen Arbeitslebens, aus dem die natürlichen Rhythmen von Tag und Nacht, Winter und Sommer so gut wie ausgeschaltet sind, keinen naturwüchsigen Kontrast zwischen arbeitsintensiven und arbeitsärmeren Zeiten, wie etwa bei den Bauern zwischen Sommer und Winter. Dazu kommt, dass infolge der Aufklärung und des allgemeinen Rückgangs der religiösen Rhythmen im Arbeitsalltag der Kontrast zwischen der Zeit der Arbeit und der Zeit des Gebets, zwischen der profanen Zeit der alltäglichen Verrichtungen und der heiligen Zeit der Feste, zwischen Werktag und Sabbat verschwindet. Sind aber Raum und Zeit nivelliert, so kann darin keine Spannung entstehen. Denn jede Spannung setzt ein Spannungsgefälle zwischen unterschiedlichen Feldzonen voraus.“

Wenn das Spannungsgefälle verschwindet, tritt anstelle der Bewegung der Stillstand. Das meint in unseren Breiten nichts anderes als den Tod, der immer das Ziel der Ziele ist. Die dunklen Augen der menschlichen Wesen auf den Bildern von Franz Schwarzinger sind auffallend groß. Sie sehen, wie vorhin festgestellt, nicht in die Welt hinein, sondern drücken ein dunkles Geheimnis aus, das an bereits vor Jahrtausenden entstandenes Bildmaterial erinnert: Die Augen der Mumienportraits aus dem alten Ägypten haben nicht den meist üblichen in die Ewigkeit gewandten Blick, sie schauen dagegen zum Betrachter mit einem Wissen, das nur ihnen eigen ist. Dennoch wird durch gestaltete Physiognomie sowie Haar- und Barttracht ein Erscheinungsbild geschaffen, das eine Individualisierung der möglicherweise vorhandenen Vorlagen vermuten lässt. Den von Franz Schwarzinger gemalten Menschen fehlt diese Individualität völlig. Er beschwört immer wieder dieseleben Typen, die einander sehr ähnlich sind. Diese Einheitlichkeit wird durch die Augen, die dunklen, besonders hervorgehoben.

In Science-fiction-Filmen zeichnen sich häufig Außerirdische durch Sehorgane aus, die wenig geeignet sind, dass ihre seelischen Regungen von den Irdlingen erkannt werden können. Auch so könnten die Augen der menschlichen Kreaturen in den Bildern von Franz Schwarzinger gesehen werden.

Die erste Deutung verweist auf den Grenzbereich zwischen Leben und Tod, die zweite auf den Exodus des Menschen aus dem Habitat Planet Erde, die von ihm selbst unwirtlich gemacht wurde. Beiden gemeinsam sind: die Zeichen der Endlichkeit. Was auch als besondere Form der Repräsentanz des Menschen gesehen werden kann.

Dr. Helmuth A. Niederle, Herausgeber & Schriftsteller

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